Von einem User namens Angelsammy erschien u. a. im SF-Netzwerk die folgende Besprechung von Gabriele Behrens »Salzgras & Lavendel«, die wir hier nicht vorenthalten möchten:
Was das Genre Science-Fiction angeht, kursieren noch immer zahllose Klischees. Eines davon lautet, dass es ein »maskulines« Genre ist, von Männern hauptsächlich dominiert und Frauen unterrepräsentiert.
Tatsache ist, dass viele Frauen SF schreiben, aber in der Rezeptionsgeschichte hauptsächlich Männer die Meriten eingestrichen haben. Arthur C. Clarke, Philipp K. Dick, Isaac Asimov, usw. Dass aber auch Doris Lessing SF verfasst hatte, wissen viele gar nicht.
Eine deutsche SF-Autorin hatte bei Wikipedia einen Artikel über die Geschichte deutscher SF-Autorinnen veröffentlicht. Ein männliches Mitglied der deutschen Sektion von Wikipedia hat den Artikel als irrelevant gelöscht. Frechheit! Wie überhaupt Wikipedia in Deutschland überwiegend von Männern beherrscht wird.
Dies hier ist das erste Buch von Gabriele Behrend, das ich gelesen habe. Ich bin über alle Maßen begeistert! Ich bin darüber sehr froh, dass mir dieses Juwel nicht durch die Finger geschlüpft ist.
Sie schreibt elegant, komplex, verständlich, mit poetischem Impakt, gesellschaftskritisch. Ihre Charaktere besitzen Tiefe, haben Ausdruck und sind äußerst facettenreich. Die Möglichkeiten der Technik, wie sie sich weiterentwickeln könnte, hat sie konsequent weitergedacht. Deswegen ist diese Geschichte durchaus auch eine Dystopie, aber nicht nur. Diese Kategorisierung würde dem Werk nicht annähernd gerecht werden.
Ihr Figurenensemble und das Setting, die interpersonellen Dialoge sind sehr authentisch.
Aber um was geht es überhaupt?
Erst einmal etwas zur Erläuterung. Multiple Persönlichkeitsstörung, das ist jetzt, in unserer Zeit, eine ernsthafte psychische Störung, die infolge schwerer Traumatisierung getriggert wird, um zu überleben. Ein Zustand also, der nicht wünschenswert ist.
In jenem London der Zukunft, das der Schauplatz ist, ist aber genau dieses Multiple förder- und wünschenswert. Denn diese Prozedur erfolgt kontrolliert. Bereits bei den Kleinsten. Sie bekommen ein Implantat verpflanzt, das seinen Sitz im bzw. am Hirn hat.
Das Ich des normalen Menschen stellt eine unifizierte Einheit dar, aber natürlich mit Facetten. Der arbeitsame Kollege, der Fürsorger, der Wächter, das sexuelle Ich, das Kind in einem selbst, der Organisator usw.
Der Mensch der Zukunft, der als lebendes, atmendes Wesen eine Entität darstellt, bekommt ein gesamtes Persönlichkeitsset verpasst. Die eben erwähnten Facetten und noch andere werden mit Hightech abgespalten und werden zu einem eigenen »Ich«, das aber der Entität untergeordnet bleibt. So wird der Mensch zur multiplen Persönlichkeit, aber eben kontrolliert, zivilisiert und effizient, ohne lästige Ausfälle.
Es gibt dafür Zentren, Behörden und Gesetze, die den Prozess durchführen, überwachen und Missbrauch vorbeugen bzw. bestrafen. Die ganze Gesellschaft ist nur noch auf Effizienz getrimmt und die wenigen, die nicht dergestalt konditioniert wurden, gelten als potenziell unkontrollierbar, als sogenannte »Wilde«.
Genau das passiert Douglas Hewitt, als Kind bereits zur Vollwaise geworden, in seinen Dreißigern und Datenarchäologe von Beruf. Er hat zwar im Waisenhaus lebend, noch als Heranwachsender nachträglich das Implantat, das Socket bekommen, aber eben nur die Basisbehandlung.
Er hat sein archaisches Privat-Ich, von seinen inneren Dämonen geplagt und sein effizientes Arbeits-Ich. Und das ist alles.
Eines Tages tickt er scheinbar aus, als er einen Mann, den er nicht kennt, vor die U-Bahn schubst und dieser daraufhin stirbt. Doug besitzt jedoch keinerlei Erinnerung an den Vorfall.
Er hat großes Glück, dass sich Professorin Claire Paulson sich seiner annimmt. In ihrem progressiven Zentrum soll er ein ganzes Persönlichkeitsset erhalten. Eine Chance auf Bewährung, eine Chance, rehabilitiert zu werden, eine Chance, nicht inhaftiert zu werden.
Der Prozess klappt zunächst erstaunlich gut. Kaynee ist seine Patin im Zentrum, eine charmante, bezaubernde, junge Frau, mit komplettem multiplen Set. Sie verstehen sich gut – zu gut?
Sanders, der Techniker, der für Doug zuständig ist, generiert immer destruktivere Eifersucht. Mit Kaynee selbst scheint etwas nicht zu stimmen, weil sie scheinbare Fehlfunktionen bemerkt, Claire gegenüber aber verschweigt, aus Angst um ihren Job.
Bald schon überschlagen sich die Ereignisse mit unvorhersehbaren, weitreichenden Folgen. Wird es am Ende nur Verlierer geben?
Das Buch ist emotional packend, rührt tief an, in all den Aspekten der eigenen Seele und Psyche, sympathische Protagonisten und teils undurchsichtige Antagonisten. Eine durch und durch humanistische Claire. Schwanger von Melancholie, tieftraurig, aber auch nicht einer gewissen Hoffnung entbehrend.
Mit wirklich überraschenden Aha-Wendungen und einem bittersüßen Ende. Poetisch gefärbt, niveauvoll und hypnotisch geschrieben.
Es gibt technische Details im Buch. Diese werden indes aber derart gut integriert und unaufdringlich erläutert, dass das weder den Lesefluss stört und alles verständlich macht. Eine erschreckende Vision der Zukunft. Dieser »Fortschritt« sorgt zwar dafür, dass die Menschen friedlicher sind, also das Zusammenleben wesentlich besser funktioniert. Aber zu welchem Preis?
Gabriele Behrend schreibt ungeschönt über die Schattenseiten und schlimmen Folgen, ohne dass sie jemals belehrend oder moralistisch wird. Sie versinkt ebenso wenig in endlosem Pessimismus. Sie lässt dem Leser genug Spiel- und Freiraum, sich selbst eine Meinung zu bilden. Ich jedenfalls würde solch ein Implantat nicht haben wollen. Eine Gesellschaft, die nur noch auf Effizienz konditioniert ist, wird schnell inhuman und seelenlos, verliert ihre einzigartige Essenz.
Ein weiteres absolutes Highlight, dieses kongeniale Meisterwerk, sehr intelligent und mehr als »nur« Unterhaltung. Ich musste auch weinen und werde zum intensiven Reflektieren angeregt. Danke, Gabriele Behrend!!!