Ralf Bodemann: Das Wort ist guter Hoffnung

Ralf Bodemann ist Mitglied des Komitees des Deutschen Science-Fiction-Preises (DSFP). Er hat eine ausführliche Rezension zu den beiden STORY-CENTER-2009-Bänden verfasst, die in den ANDROMEDA NACHRICHTEN 229 des SFCD e.V. veröffentlicht werden wird. Er hat die freundliche Genehmigung der Vorabveröffentlichung auf unserer Website erteilt:

Ralf Bodemann
Das Wort ist guter Hoffnung

Auswahl und Beschränkung – das war das Erfolgsrezept der besten deutschsprachigen SF-Anthologien der vergangenen Jahre. Die Namen der Schriftsteller, deren Storys Helmuth W. Mommers für seine legendäre »VISIONEN«-Reihe abgelehnt hat, lassen jedem anderen Herausgeber das Wasser im Mund zusammenlaufen. Der Wurdack-Verlag hat den Publikationsrhythmus auf eine Anthologie pro Jahr reduziert; bei gleich bleibendem Umfang von etwa 18 Storys mit insgesamt 220–240 Seiten wohlgemerkt! Ergebnis: Mit »S.F.X« und »Molekularmusik« legten Armin Rößler und Heidrun Jänchen die vielleicht besten Anthologien der vergangenen Jahre vor. Wie viele Manuskripte vorher aussortiert wurden, lassen die Stoßseufzer der Herausgeber erahnen (»Es gibt mehr Kurzgeschichten-Autoren als -Leser.«). Die Macher des etablierten und renommierten Magazins »NOVA« schauen sich eingereichte Storys sogar nur noch an, wenn ihnen die Autoren bekannt sind oder zumindest eine Empfehlung eines bekannten Autors vorweisen können.
Michael Haitel wählte einen anderen Ansatz. Zunächst bat er öffentlich um Beiträge zum SFCD-Story-Center 2009. Im Herbst 2009 präsentierte er dem staunenden Kurzgeschichtenfan die stolze Ausbeute: zwei 580-Seiten-Ziegelsteine mit insgesamt 92 Stories. Nach Angaben des Herausgebers kamen »etwa 35« Werke nicht zum Zuge – eine ausgesprochen geringe Ablehnungsquote im Vergleich zu den eingangs erwähnten Publikationen. Neben einigen bewährten Autoren finden sich viele weniger bekannte Namen. Ein wenig Skepsis ob der erzielten Qualität durfte also erlaubt sein. Zumal der Preis von 29,90 EUR pro Band (!) durchaus fürstlich zu nennen ist.
Damit kein Zweifel aufkommt: Michael Haitels Initiative, das SFCD-Story-Center in neuem Gewand weiterzuführen, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Nachdem der bisherige Herausgeber Arno Behrend das Projekt nicht mehr fortführen wollte, hätte es nur eine Alternative gegeben: Das Story-Center sterben zu lassen. Da seit Jahren auch das ANDROMEDA-Magazin mehr schlecht und recht vor sich hindümpelt (ruhmreiche Ausnahme: die Nummer 150 »Zeitkristalle« mit Erzählungen aus dem Stanislaw-Lem-Club Dresden), hätte der SFCD de facto eine weitere Publikationsreihe verloren. In solch einer Situation ist jeder Rettungsversuch den Schweiß der Edlen wert, zumal Michael Haitels Herangehensweise die Vereinskasse nicht belastet haben soll.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Man merkt dem fertigen Produkt an, wie viel Arbeit und Herzblut in seine Erstellung eingeflossen ist. Cover, Satz und Erscheinungsbild sind ansehnlich bis professionell geworden, die Fehlerquote hält sich auf erfreulich geringem Niveau. Zudem werden im Anhang die Autoren kurz vorgestellt. Das Umschlagbild von Lothar Bauer, einmal grün und einmal rot getönt, hätte durchaus etwas auffälliger gestaltet sein dürfen; zumindest stört es nicht und lässt genug erahnen, um Interesse zu wecken. Das einzige Manko: Es gibt keinen Nachweis über eventuelle frühere Veröffentlichungsorte der Storys.

Bei der rekordverdächtigen Materialmenge sei ein wenig Statistik erlaubt. Dabei möchte ich die beiden Bände »Das Wort« und »Boa Esperança« gemeinsam betrachten. Die 92 Texte füllen zusammen 1126 Seiten, was einer Durchschnittslänge von 12,2 Seiten pro Story entspricht. Die längste Geschichte umfasst 74 Seiten, am anderen Ende der Skala finden sich zwei Vignetten mit lediglich zwei Seiten. Gleich 20 Storys sind acht Seiten lang – der Umfang erfreut sich damit der größten Beliebtheit. (Kleiner Hinweis für Statistik-Freaks: Der Medianwert der Seitenzahlen liegt auch bei 8 Seiten.)
61 verschiedene Autoren von A wie Acheronian bis Z wie Zulauf lieferten Beiträge ab. Einige Schriftsteller wurden zu Mehrfachtätern, wie ein Blick auf die Hitliste der Autoren mit den meisten Storys zeigt:

1. Christian Künne    6
2. Mark-Denis Leitner    5
3. Simone Edelberg    4
Carsten Knittel    4
Ian Ulster    4

Auf Knittels Konto gehen übrigens die drei kürzesten Storys der beiden Bände.
Interessanterweise findet man keinen Autor, für den aller guten Dinge drei Beiträge waren, dafür aber 13 Autoren, die mit zwei Storys vertreten sind. Die übrigen 43 Künstler beschieden sich mit je einer Kurzgeschichte.
Ein anderes Bild ergibt sich bei der Hitliste der Autoren, die die meisten Seiten beschmutzt haben. In Klammern ist die Zahl der Storys angegeben.

1. Matthias Falke    74 (1)
2. Axel Kruse    61 (1)
3. Arno Endler    55 (2)
4. Christian Künne    54 (6)
5. Veronika Grager    47 (1)
6. Robert na’Bloss    45 (1)
Mark-Denis Leitner    45 (5)
8. Kay Löffler    38 (2)
9. Frederik Brake    33 (2)
10. Barbi Delvalle    32 (1)
11. Ernst-Eberhard Manski    31 (2)

Carsten Knittel landete mit seinen 4 Geschichten auf 25 Seiten auf Platz 14, Simone Edelbergs Story-Quartett mit 21 Seiten Gesamtumfang findet sich auf Platz 18.
Ein positiver Aspekt der Haitelschen Maßlosigkeit sei konstatiert: Das Story-Center 2009 bot die Möglichkeit, Novellen mit mehr als 30 Seiten Länge zu veröffentlichen. Gerade für längere Erzählungen sind die Publikationsmöglichkeiten ansonsten rar gesät: Für einen Roman sind sie zu kurz, in einer »normalen« Anthologie würden sie jedoch oft genug den Umfang sprengen. Dabei bietet gerade diese Textlänge die Möglichkeit, eine größere Szenerie und deren Hintergrund auszuarbeiten, auch wenn die Idee einen Roman nicht tragen könnte.

Es würde den Umfang dieser Rezension sprengen, wenn man auf jede einzelne der 92 Storys eingehen würde. Deshalb werden im Folgenden nur die besten Werke hervorgehoben. Der Rest sei kursorisch abgehandelt.

Die anfangs angesprochene Skepsis ist leider nicht ganz unbegründet. Denn die Mehrzahl der Storys zeigt typische Anfängerfehler. So findet man viele platte Pointengeschichten, die nicht mehr als ein breitgetretener Witz sind. Einige Storys dienen als Transportmittel für eine moralische Aussage, die zumeist auch noch ziemlich hausbacken und oberflächlich daherkommt. Manche Autoren hatten Probleme, einen sauberen Plot zu konstruieren; immer wieder finden sich haarsträubende Wendungen, unwahrscheinliche Zufälle oder Logikfehler. Mehrere Storys starten mit einer starken Anfangsszene, verlieren dann aber an Spannung und Stringenz. All diese Storys würden einem Teilnehmer eines Volkshochschulkurses für Kreatives Schreiben zur Ehre gereichen, haben aber in einer professionellen Sammlung nichts verloren. Allerdings sind die meisten Storys überraschend flüssig geschrieben; nur wenige Werke weisen signifikante sprachliche Mängel auf.
Die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Fantastik-Verein »Earth Rocks« blieb nicht ohne Spuren. So häufen sich Storys über »Weihnachten«, »Mond« und »Voyager« – teilweise Themen früherer »Earth Rocks«-Kurzgeschichtenwettbewerbe. Nicht alle ER-Storys tragen zur Freude des Lesers bei.

Aus dem Bodensatz ragen aber eine Reihe lesenswerter Storys heraus. Hier nun die Highlights aus »Das Wort«:

Dietrich von Bern: Die Chance
In einem totalitären Zukunftsstaat tragen alle Menschen ein Chipimplantat, das den Herrschern mehr Kontrolle gibt als angenommen. Cyb wird zwar von Regierung und Medien als Vorzeigeoppositioneller aufgebaut, lebt aber tatsächlich im Gefängnis auf dem Mond. Die Widerstandsbewegung bekommt einen Hinweis, dass Cyb vermittels seines Chips getötet werden soll. Da erscheint Xenia, die eindeutige Absichten zu hegen scheint.
Die Idee basiert auf bekannten Mustern, ist aber gut ausgearbeitet. Zudem beherrscht von Bern das sprachliche Handwerkszeug und gestaltet auch die handelnden Figuren sehr lebensecht. Da akzeptiert man sogar den im Grunde haarsträubenden Plot.

Axel Kruse: Der Turm
Mit 61 Seiten präsentiert Kruse die längste Geschichte in »Das Wort«. Ralf und Chris suchen vor einem Unwetter Schutz im Kellerraum eines Turmes. Der entpuppt sich als Vehikel zur Reise durch verschiedene Paralleluniversen. Allerdings unternehmen sie die Reise nicht allein. Ob sie jemals ihre ursprüngliche Welt wiedersehen werden?
Kruse hat ein schönes Setting geschaffen und viele interessante Parallelwelten entworfen. Aber genau in der Fülle liegt das Problem. Der Stoff könnte leicht einen kompletten Roman tragen. In der komprimierten Novellenform geraten viele Sequenzen zu gerafft und exposéartig. Auch die Rahmengeschichte mit dem angedeuteten Mutter-Tochter-Konflikt verdient eine liebevollere Ausarbeitung. Zudem hätte der Autor noch sprachlichen Feinschliff anlegen können. Vielleicht kann sich Kruse dazu durchringen, die Novelle zu einem Roman auszuarbeiten.

Christian Künne: Wohne deinen Traum
»Das Sofa hat meine Katze gefressen.« Mancher mag ja davon träumen, dass ihm die Möbel auf pure Gedankenbefehle hin gehorchen. Aber was, wenn man seine Gedanken nicht im Zaum hält?
Künne variiert gekonnt eine niedliche Horror-Idee, außerdem schreibt er recht flüssig. Aber das Ganze bleibt eine nette Glosse für zwischendurch.

Carsten Knittel: Der Methusalem-Effekt
Auf einer archäologischen Forschungsstätte entdeckt Wissenschaftler Alfaja, dass der Erstkontakt mit den Außerirdischen Kjellbell schon 40 Jahre früher stattfand, als in den Geschichtsbüchern des 28. Jahrhunderts überliefert. Arthur Dressler, der damals die Aliens kontaktierte, lebt seit 600 Jahren auf dem Mond des Kjellbell-Planeten. Die dortige Flora hält offenbar eine für Menschen lebensverlängernde Substanz bereit.
Knittel präsentiert eine interessante Idee mit starken Figuren in einem stringent geführten Plot. Über 90% der Geschichte sind hochspannend. Leider ist das Ende nur schwer nachvollziehbar. Warum lässt sich Dressler von seinen Besuchern so schnell umstimmen?

Veronika Grager: Mondbeben
In Russland taucht ein Typ auf, der behauptet, ein Alien zu sein und von einer Mondstation zu kommen. Das würde die US-Feiern zur 50jährigen Mondlandung gehörig durcheinanderbringen. Kim Asher, Chefin des US-Agenten David Lovely, passt es überhaupt nicht, dass sich der Außerirdische in der Obhut der Russen befindet. Zu allem Überfluss entdeckt NASA-Mitarbeiter Jimmy geheim gehaltene Fotos aus Aldrins Kamera.
Veronika Grager baut ein komplexes, konfliktträchtiges Setting auf und lässt ihre zahlreichen, aber allesamt prägnant gezeichneten Protagonisten darin aufeinandertreffen. Das Ergebnis ist eine turbulente Agentenstory mit abgedrehten Wendungen. Eine spannende und unterhaltsame Geschichte. Die Autorin, die die 60 bereits überschritten hat, weckt Reminiszenzen an Alice B. Sheldon, die Ende der 60er Jahre unter dem Pseudonym James Tiptree jr. für Furore sorgte. Auch »Mondbeben« ist so schwungvoll geschrieben, dass man eine bedeutend jüngere Urheberin vermutet hätte.

Bernhard Röck: Der alte Mann und der See
Aufgrund des Klimawandels hat sich der Bodensee in eine Dschungellandschaft verwandelt. Sepp ist der letzte Bewohner dieses Biotops. Allerdings hält er sich hier illegal auf, wie ihm zwei Beamte aus dem Norden versichern, die ihn auf einem Inspektionsflug entdecken.
Auch wenn sich der Autor bekannter Versatzstücke bedient – das Setting und die Figur des Sepp sind durchaus knackig und gelungen. Das Ende, obgleich vorhersehbar, passt.

Galax Acheronian: Neumond
Was’n Pseudonym! Die Weltmächte betreiben auf dem Mond gemeinsam die Station »Neumond«. Doch der scheinbaren Einigkeit auf dem Mond steht eine heftige nukleare Aufrüstung auf der Erde gegenüber. Bei einer Bohrung stößt man auf eine Metallplatte und Spuren früherer Besiedlung. Als sie die Herkunft der früheren Bewohner und das Schicksal ihrer Heimatwelt entschlüsseln, zeigen sich beängstigende Parallelen zur Situation der Protagonisten.
Starkes Setting, tolle Ideen, interessante Charaktere und spannende, stringente Plotführung über 90% der Story. Leider mindert das aufgesetzte Ende, das etwas moralinsauer aufstößt, einiges vom guten Gesamteindruck.

Steffi Friedrichs: Der Ewige Himmel
Kara’ak, ein Ma’al, findet auf einer Wanderung das Ende der Welt, wo das Land aufhört und das Wasser beginnt. Wird sich die alte Prophezeiung vom Großen Feuer erfüllen? Oder findet sein Namenserbe einen Weg durch das Wasser?
SF-Fans werden mit dieser Fantasy-Story vielleicht wenig anfangen können. Die Autorin präsentiert starke Bilder, schöne Symbole und eine kunstvolle, aber ungekünstelte mythische Sprache. Ihr gelingt eine eigenständige Legende mit hintergründiger Bedeutung, weitab von jeglichem Sword-and-Sourcery-Schmonzettentum.

Kay Löffler: Am Rande der Unendlichkeit
Fjodor flieht vor dem 3. Weltkrieg in die Unendlichkeit des Raums und des Kryoschlafs. Alle paar Jahrtausende weckt ihn der Bordcomputer.
Löffler verwendet bekannte Muster, variiert sie aber gekonnt und originell. Einzelne Details sind liebevoll gestaltet. Vor allem Fjodors fortschreitender Zerfall kommt gut rüber.

Frederik Brake: Prothesenkörper
Henry Overload ist der größte Cybercowboy und Hacker der Stadt. Da bekommt er vom superreichen, aber todkranken Peter Michaelson ein verlockendes Angebot. Seine wahren Beweggründe offenbaren sich Henry erst, als es schon zu spät ist.
Brake verwendet bekannte Cyberpunk-Versatzstücke; allerdings gelingen ihm viele schöne Detailbeschreibungen. Er verleiht dem Werk eine eindrückliche, fesselnde Stimmung und versteht es auch einen spannenden, durchgehenden Plot zu schaffen, der spannend bis zum Ende bleibt.

Jutta Schönberg: Der Mond von Alluran
Zwei terranische Prospektoren sollen auf dem Planeten Alluran nach dem wertvollen Metall Milith suchen. Zuvor wurden sie bestens auf den Planeten und seine Bewohner vorbereitet. Doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus als im Simulator.
Die Autorin variiert gekonnt eine bekannte Idee, die sie aber gut ausgearbeitet hat. Die Handlung verläuft rund und interessant, außerdem kann Frau Schönberg schreiben. Unterm Strich bleibt eine solide Story, die man gerne liest.

Ian Ulster: Shorty kratzt die Kurve
Kleinganove Shorty wird von den Carusos geschnappt. Einer unliebsamen Behandlung entkommt er nur, weil er den Don zu einer Wette auf einen Killerasteroiden verleiten kann.
Asteroiden, die auf Planeten einschlagen – und das alles nur, um die Wettleidenschaft zu befriedigen. Welch eine Idee! Dazu bedient sich Ulster eines schnoddrigen Hardboiled-Stils, der perfekt zum SF-Krimi-Ambiente passt.

Chris Lind: Bananen für Bobo
Prolet Ginger wird als Proband für ein Intelligenzsteigerungsmittel eingesetzt. Mit durchschlagendem Erfolg, wie man seinen Tagebuchaufzeichnungen entnehmen kann!
Chris Lind kann schreiben. Und wie! Sowohl den Proleten als auch den Duktus des arroganten Genies trifft sie mit schlafwandlerischer Sicherheit. Sie besitzt einen pointierten Humor, der bisweilen an Woody Allen erinnert. Dabei gelingen ihr einige wunderbare Sätze. Beispiel: »Das Leben bietet mir keine Herausforderungen mehr! Die Welterklärungsformel habe ich mir patentieren lassen, auch wenn sie niemand verstehen wird. Möglichweise sind die Menschen in hundert Jahren weit genug, die Grandezza meiner Theorien zu würdigen.«

Arno Endler: Das Wort ist schärfer
Ende des 21. Jahrhunderts werden Gesetzestexte von Mönchs-Skriptoren verfasst. In der Abtei legt ein Novize eine Arbeit vor, deren Lektüre zwei Inspektoren das Leben kostet – freilich wurden sie vor ihrem Ableben drastisch verjüngt. Skriptor Mark untersucht die Vorfälle.
Wow! Die Titelgeschichte ist zugleich der Höhepunkt der Sammlung. Endler entwirft eine interessante Zukunfts-Gesellschaft, die sich von Demokratie und Bürokratie gelöst hat und die Gesetze in die Hände einer auserwählten Berufsgruppe legt. Die Anleihen bei Umberto Ecos »Der Name der Rose« sind unübersehbar, aber überzeugend in das Zukunftssetting integriert. Dazu liefert Endler ausgearbeitete, interessante Akteure, einen spannenden Plot mit viel Drive und eine ausgezeichnete stilistische Leistung.

Und hier kommen die Highlights aus »Boa Esperança«:

Barbi Delvalle: Mediziner im Weltall: Esperanza in Gefahr
Die CGT2220 findet im Raum ein seit 180 Jahren verschollenes Raumschiff. Im Kryoschlaf lagern dort einige Doppelgänger der CGT-Besatzung sowie eine ungewohnt blonde Frau. Nach dem Auftauen entpuppen sich die kalten Gesellen als gefährliche DaRGs.
Delvalle liefert eine süße Enterprise-Persiflage ab. Der Text ist rund geschrieben und unterhält den Leser.

Christian Weis: Mutagenese
In einer Forschungsstation auf einem fremden Planeten entwickeln Wissenschaftler eine Alge, die sich hervorragend vermehrt. Nur mit dem Stop hapert es. Irgendwann ist die Station überwuchert, aber auch die Menschen verändern sich.
Christian Weis ist seit einigen Jahren Stammgast in allen einschlägigen Magazinen und Publikationsreihen. Seine Routine zeigt sich auch in der vorliegenden Story. »Mutagenese« bietet eine interessante, gut ausgearbeitete Idee, eine dichte Atmosphäre und eine gute Charakterisierung der handelnden Figuren. Die Manipulationen des Parasiten könnten noch etwas besser herausgearbeitet werden, das Ende wirkt etwas plakativ. Dennoch liegt hier unterm Strich eine runde, gelungene Story vor.

Ernst-Eberhard Manski: Urbania
Stefan verliebt sich schon als Teenager in Urbania, eine fahrerlose U-Bahn, deren KI ein eigenes Bewusstsein entwickelt hat. Stefans Sandkastenkollegin Monika kommt schließlich Urbanias Geheimnis auf die Spur – und rettet sie vor dem Abstellgleis.
Eine fahrerlose U-Bahn mit Bewusstsein und Gefühlen – so was Abgedrehtes kann nur Manski einfallen! Die Story ist stilistisch gut geschrieben und von einem durchgehenden Spannungsbogen durchzogen. Manche Details erscheinen hanebüchen (wer würde sein Baby einer U-Bahn zur Aufsicht anvertrauen?), die eine oder andere Wendung, insbesondere die Einführung von Frank, geschieht etwas unmotiviert. Aber das sind wirklich nur feine Haarspitzen in einer insgesamt schmack- und nahrhaften Suppe.

Clemens Nissen s. ps.: Die verdammten dreißig Minuten
Während eines 30minütigen Fluges von Palermo nach Malta schalten sich wiederholt Außerirdische ins Bewusstsein des Flugkapitäns ein. Seine Aussetzer fallen schon seinem Copiloten auf. Wenn er während des Landevorgangs abwesend wäre, könnte die Sache gefährlich werden.
Nach einem schwerfälligen Anfang entwickelt sich eine spannende, atmosphärisch dichte Cockpit-Szene, in der man viel über das Fliegen erfährt. Gerade der Schluss lässt die Story unfertig wirken – eher wie das erste Kapitel eines Romans als eine abgeschlossene Geschichte. (Was steckt eigentlich hinter dem Namenssuffix »s. ps.«?)

Arno Endler: Maus
Sörens autistischer Bruder Maus bemerkt, dass am Himmel Sterne verschwinden. Als sich Sören an einen Astronomie-Professor wendet, zeigt sich, dass er in ein Wespennest gestochen hat. Auch Maus verändert sich zusehends.
Die SF-Idee (Erstkontakt) und deren Unterfütterung bleiben vielleicht etwas schwach auf der Brust. Aber das übersieht man gerne. Was an der Story berührt, ist die einfühlsame Beschreibung von Maus, seiner Beziehung zu Sören und seiner Wandlung. Zudem beherrscht Endler sein schriftstellerisches Handwerk; stilistisch ist die Story ausgereift.

Gerald Meyer: Die Regulatoren des Mars
Der Mars wurde terraformt und besiedelt. Bei einem normalen Ernteeinsatz tut sich plötzlich eine Wasserquelle auf. Die dadurch ausgelöste Schlammlawine verschüttet ein ganzes Areal. Laune des Planeten? Oder Inszenierung der Bergbaumonopole, die an die Bodenschätze unter der Siedlung kommen wollen?
Der Anfang erscheint etwas geschwätzig, im Mittelteil entwickelt sich aber eine spannende, lebendig beschriebene Action-Handlung. Die Industriekritik am Ende wirkt aufgesetzt, das ganze Ende macht einen unfertigen Eindruck.

Mark-Denis Leitner: G-Wake
Direktübertragung von den Gravity-Wakeboard-Meisterschaften! Bei dieser Extremsportart surft man auf der Plasmawelle eines Raumschiffs. Da crackt Merricks Brett.
Eine routiniert geschriebene Satire auf Medienauswüchse und Extremsportarten. Allerdings wurden in den letzten Jahren verschiedene Storys dieser Art publiziert.

Olaf Lahayne: Der Trabant
Zwei Bewohner des Saturnmonds Titan suchen systematisch alle Monde des Sonnensystems ab, um die Urheber der Raumschiffartefakte zu finden, die auf ihrer Heimatwelt niedergegangen sind. Gerade sammeln sie Proben auf dem Trabanten des dritten Planeten und genießen den Ausblick auf die geheimnisvollen Lichter auf der Nachtseite. Denn es ist ja wohl offenkundig, dass sich Leben nur auf Trabanten, nicht aber auf Planeten entwickeln kann.
Lahayne legt eine drollige, routiniert geschriebene Satire auf Wissenschaftsdogmen und die wahrnehmungsreduzierende Wirkung von Scheuklappen vor.

Michael Stappert: Unterschätzt
Gora, eine Gestaltwandlerin, ermordet auf einer interstellaren Konferenz das Oberhaupt eines Planeten. Danach will sie von der Erde fliehen, indem sie sich in einen Koffer verwandelt. Doch Ina, eine 10jährige Telepathin, enttarnt sie an Bord des Raumschiffs.
Stappert unterhält den Leser mit einer stringenten, spannenden Handlung, irrwitzigen Einfällen und einer interessanten Protagonistin. Hätte er noch etwas sprachlichen Feinschliff angelegt, wäre seine Story rundum gut geworden.

Konrad Jakob: Mietnomade
Ein Parasit, eine Art Wurm, nistet sich im Gehirn von Wirtslebewesen ein und steuert sie. Der Protagonist hat sich in einen weiblichen Wurm verliebt und sucht den direkten Kontakt – wohl wissend um die Konsequenzen!
Die Story ist konsequent aus der Perspektive eines nicht-menschlichen Wesens geschrieben. Und genau das macht den Reiz und die Qualität der Geschichte aus.

Matthias Falke: Boa Esperança
Nachdem sein Raumschiff zerstört wurde, treibt ein Astronaut allein in den Weiten des Alls. Sein Raumanzug hält Überlebensreserven für 36 Stunden parat. Auf sich allein gestellt, legt er in einem großen Monolog Rechenschaft ab – über sein Leben, das Menschsein an sich und Boston, die Frau, die er liebte.
Welch ein dichtes Stück Prosa! Woran denkt einer, dessen Stunden gezählt sind, und der weiß, dass niemand seine Aufzeichnungen je finden wird? Falke bedient sich einer präzisen, treffenden Sprache. In beiläufigem Ton werden die unerhörtesten Wahrheiten ausgesprochen. Eine tiefgründige Meditation über die conditio humana. Und ein Meisterwerk!

Unterm Strich findet der interessierte SF-Kurzgeschichten-Fan durchaus einige Perlen. Allerdings muss er Geduld und langen Atem beweisen, wenn er im Brackwasser der 92 Storys und über 1100 Seiten nach ihnen taucht. Auswahl und Beschränkung – das hätte auch der vorliegenden Sammlung gut angestanden! Lieber nur 25 Storys auf 350 Seiten zu einem bezahlbareren Preis veröffentlichen, als die eh spärlich gesäten potenziellen Kunden mit zwei 580-Seiten-Ziegelsteinen abzuschrecken. Allerdings wäre es schade gewesen, wenn die wirklich guten Storys, allen voran die beiden Titelgeschichten »Das Wort ist schärfer« von Arno Endler und »Boa Esperança« von Matthias Falke, nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt hätten.

Wie könnte die Zukunft des SFCD-Story-Centers aussehen? Ein Zurück zur liebenswert-amateurhaften Gestaltung der Behrend-Ära (A4-Format mit Klebebindung, schwarz-weißem Umschlag, ca. 100 Seiten Umfang, keine ISBN) kann es nicht mehr geben. Der 2009 praktizierte Ansatz erstickt jedoch an seiner Gigantomanie. Der ohnehin überschaubare Absatzmarkt wird vom viel zu hohen Preis abgeschreckt.
Eine durchaus tragfähige Möglichkeit bestünde in der Schaffung einer Novellen-Anthologie-Reihe, in der ausschließlich Texte mit mindestens 30 Seiten Länge publiziert werden. Natürlich würden nur etwa 5–10 Texte pro Ausgabe Platz finden. Andererseits würde das Story-Center damit eine echte Nische besetzen. Autoren, deren Reifegrad sich irgendwo auf dem Weg von der Kurzgeschichte zum Roman befindet, fänden hier eine Publikationsmöglichkeit für ihre mittellangen Texte. Und die Leser könnten sich freuen auf Kostproben der deutschsprachigen SF-Romanautoren von morgen.

Letztendlich sind diese Überlegungen müßig. Der Herausgeber hat, zumindest für den Jahrgang 2010, bereits die Marschroute festgelegt. Nach Michael Haitels Willen soll sich das Story-Center 2010 dem Thema »Inzucht und die denkbare Gesellschaft« widmen. Die Ausschreibung findet sich bereits auf dem Blog seines Verlags p.machinery; sie wurde auf dem Blog des SFCD und in einschlägigen Foren gespiegelt. Ein gleichsam provokantes wie ambitioniertes Thema, an dem sich begabte Literaten produktiv abarbeiten können.
Mögen dem rührigen Herausgeber nicht die Texte für künftige SFCD-Story-Center ausgehen! An Ideen und Tatkraft mangelt es ihm wahrlich nicht

2 Gedanken zu „Ralf Bodemann: Das Wort ist guter Hoffnung“

  1. Als Verfasserin einer Geschichte (Mondbeben), die sich „vom Bodensatz abhebt“, möchte ich mich herzlich für die ausnehmend freundliche Rezension bedanken. Besonders erhebend der Vergleich mit Alice B. Sheldon. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, musste ich erst googeln, wer die Dame ist. Umso breiter mein Grinsen nach der Lektüre! Um ihr nahe zu kommen, werde ich mich allerdings ganz schön ins Zeug legen müssen. „Mondbeben“ war erst meine zweite SF-Geschichte. Normalerweise schreibe ich eher mörderisch (Krimis und Thriller).
    Nach Ihren ermunternden Kritik werde ich vielleicht öfter mal einen Seitensprung in die Welt der SF wagen!

Kommentare sind geschlossen.