[VDS] Literatur ist nicht Pizza, sondern Zumutung

Aus dem VDS-Infobrief vom 13.03.2023:

Es gibt bereits Verlage, die Klassiker wie Mark Twains Tom-Sawyer-und Huckleberry-Finn-Romane nicht mehr veröffentlichen würden – wegen ihrer „anstößigen“ Passagen. Literaturhaus-Chef Professor Rainer Moritz hält herzlich wenig davon, dass Verlage Gebrauchsanweisungen zum Konsum ihrer Produkte veröffentlichen: „Die Angst, irgendjemandem mit irgendwas auf die Füße zu treten, breitet sich in den letzten Jahren auch hierzulande so aus, dass man am Verstand der Beteiligten zweifeln muss.“ Selbstverständlich sagten Figuren in einem Roman Dinge, die jedenfalls nicht die Meinung des Autors wiedergeben. Da treffe man „permanent auf Menschen, die Seltsames, Anstößiges, Widerliches oder Misogynes äußern – so wie das Menschen betrüblicherweise im ‚wirklichen‘ Leben tun.“ Die Verlage würden ihre Leserschaft für dumm verkaufen, wenn sie meinen, sie müssten eigens darauf hinweisen. Literatur sei keine Tiefkühlpizza, betont Moritz, die den Warnhinweis benötigt, dass die Plastikfolie zu entfernen ist, bevor man die Margherita in den Ofen schiebt.

Offenbar fürchten die Verlage Kloakenstürme in den sozialen Medien, wenn sie keine Inhaltswarnungen geben. „Wenn man diese Haltung zu Ende denkt, darf es künftig keine Romane ohne seitenlange ‚Warnungen‘ mehr geben“, sagt Moritz, denn in fast allen ernsthaften Romanen werde gemeuchelt, gemordet, gesoffen, gedealt und gehurt. Moritz verweist auf einen verbreiteten Irrtum im Umgang mit Kunst. Wer gut schreibt, müsse noch lange kein „moralisch integrer oder politisch klug daherredender Zeitgenosse“ sein. Man verfüge als Autor „nicht automatisch über ein besseres Urteilsvermögen als eine Installateurin oder ein Abendblatt-Redakteur.“ Davon abgesehen agierten auch Schriftsteller stets in einem bestimmten historischen Kontext. So aufgeklärt sie auch sein mögen, sie erliegen den Irrtümern und Fehleinschätzungen ihrer Zeit. So fragt sich Moritz, ob „die Sprach- und Textpolizisten unserer Tage gar nicht auf den Gedanken kommen, in zwanzig, dreißig Jahren könnte man ihre Anschauungen als überholt und verfehlt ansehen.“

Auf die Frage, was er von Romanen halte, in denen allein das Moralisch Gute und Schöne seinen Ausdruck findet, meint Moritz, er kenne keine literarisch satisfaktionsfähigen Romane, die so gestrickt seien. Es sei denn, man stelle sich das Dasein wie eine „Traumschiff“-Episode vor. Eine „Alles wird gut“-Haltung habe in der Literatur jedenfalls nichts verloren. Das allerdings müsse einen nicht hindern, in der Edition von Kinderbüchern Sorgfalt walten zu lassen. Man könne sehr wohl Begleittexte anbieten, um verständlich zu machen, warum etwa ein „Negerkuss“ lange Zeit als unbedenkliches Wort galt und warum man das heute anders sehe. Aber Moritz hält es für indiskutabel, „historische Texte zu glätten oder uns heute als anstößig Vorkommendes zu tilgen.“ Das wäre eine völlige Verkennung dessen, was Literatur, was Kunst ist. „Das heutige Besserwissertum gegenüber Texten oder auch Gemälden aus früheren Zeiten hat etwas Unerträgliches und es zeugt von immenser Selbstgerechtigkeit.“

Thomas Andre fragt im Hamburger Abendblatt: Demnach mache die Wokeness die Kunst kaputt? Darauf Moritz: „Wenn Wokeness übergriffig wird und wenn deren Wortführer glauben, im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit zu sein, kann sie gefährlich sein.“ Dann könne sie die Kunst töten. Kunst ist, „wenn sie Kunst ist, immer eine Zumutung“, sagt Moritz. Wenn das „Zigeunerschnitzel“ von den Speisekarten verschwindet, sei das kein kultureller Verlust. Es sei jedoch fatal, „wenn eine kleine Minderheit im Bewusstsein, moralisch und intellektuell Recht zu haben, glaubt, ihre Auffassung anderen oktroyieren zu können.“ (abendblatt.de  (Bezahlschranke))